Titelbild: Im Brain-Imaging-Lab geht eine Probandin mit EEG-Haube auf dem Laufband (Foto: Herbert/Uni Ulm)
Im Kooperationsprojekt „Brain in Motion“ schauen Forschende der Universität Ulm und der Technischen Hochschule Ulm dem Gehirn beim Gehen zu. Tatsächlich gehört das Gehen zu den am besten gelernten motorischen Fähigkeiten des Menschen. Doch infolge einer Erkrankung oder eines Unfalls können die perfekt aufeinander abgestimmten Bewegungsabläufe aus dem Takt geraten. Das Projekt zwischen Psychologie und Medizintechnik soll zu einer verbesserten Gangrehabilitation beitragen: In einer aktuellen Pilotstudie haben die Professoren Cornelia Herbert und Michael Munz neuronale Marker identifiziert, die sich einzelnen Gangphasen zuordnen lassen. Mithilfe Künstlicher Intelligenz lässt sich diese Zuordnung sogar automatisieren.
Gesunde
Kleinkinder erlernen in relativ kurzer Zeit und scheinbar spielerisch
das Gehen. Doch während dieser automatisierten Bewegungsvorgänge laufen
komplexe Prozesse im
Gehirn ab: Binnen Millisekunden müssen verschiedene Muskelgruppen
koordiniert werden. Für eine sturz- und stolperfreie Fortbewegung ist
zudem ein perfektes Zusammenspiel
der visuellen, akustischen und sensorischen Wahrnehmung sowie der
motorischen Handlungsplanung wichtig. Gerät der Gangzyklus im
Erwachsenenalter aus dem Takt – beispielsweise nach einem Schlaganfall
oder Sturz – müssen Betroffene das Laufen oft mühevoll wieder erlernen.
Die neurokognitiven, -motorischen und biomechanischen Grundlagen des
Gehens wollen die Psychologie-Professorin Cornelia Herbert von der Universität Ulm und der Professor für Softwaretechnik und Sensorik, Michael Munz (Technische
Hochschule Ulm/THU), im Detail verstehen. In ihrem Kooperationsprojekt
„Brain in Motion“ kombinieren sie hierfür
laborexperimentellpsychologische, neurowissenschaftliche sowie
technische Methoden. Ihre Forschungsergebnisse sollen zu einer
verbesserten Diagnostik und Gangrehabilitation von zum Beispiel
Schlaganfall-Patienten, Unfallopfern oder Personen mit neurologischen
Erkrankungen beitragen.
Für eine kürzlich im Fachjournal „Applied Science“ erschienene Pilotstudie haben
die Forschenden anhand von Laufbandanalysen und Messungen der
Gehirnaktivität (Elektroenzephalografie/EEG) untersucht, wie einzelne,
für das Gehen relevante neurokognitive und neuromotorische Funktionen
innerhalb von Millisekunden erhoben und automatisiert ausgewertet werden
können. Konkret wollten Cornelia Herbert und Michael Munz herausfinden,
ob ereigniskorrelierte Potentiale (EKPs) anhand der EEG-Aufzeichnungen
einzelnen Phasen des Gangzyklus zugeordnet werden können. Dieser
Forschungsfrage sind sie im „Brain-Imaging-Lab“ nachgegangen, das
Professorin Cornelia Herbert an der Universität Ulm aufgebaut hat.
In
der Pilotstudie wurden gesunde Testpersonen aufgefordert, zunächst in
ihrer Wohlfühlgeschwindigkeit auf einem Laufband zu gehen. Zeitweise
erhielten die Studentinnen Anweisungen, größere oder kleinere Schritte
zu machen oder etwa die Geschwindigkeit des Laufens zu erhöhen. Die
ganze Zeit über ist ihr Gangbild von einer im Laufband integrierten
Druckmessplatte sowie von Inertialsensoren (IMUs) erfasst worden.
Gleichzeitig wurde die Gehirnaktivität der Probandinnen mittels EEG
gemessen. „Mithilfe neuer psychologischer und technischer Schnittstellen
ist es uns gelungen, EKPs in den EEG-Aufzeichnungen zu identifizieren
und diese den verschiedenen Phasen des Gangzyklus zuzuordnen“, erklärt
Professorin Cornelia Herbert, Leiterin der Abteilung Angewandte
Emotions- und Motivationspsychologie der Universität Ulm. Entscheidend
für die Zuordnung seien die beobachtbaren Gangphasen gewesen – wie zum
Beispiel der erste Bodenkontakt des linken und rechten Fußes. Die
ereigniskorrelierten Potentiale, die während der initialen Bodenkontakte
auftraten, ließen sich tatsächlich bei allen Testpersonen nachweisen:
Sie können also als neuronale Marker des Gehens angesehen werden und
Auskunft über die von der Hirnrinde ausgehende („kortikale“)
Bewegungssteuerung geben. Zudem ergaben sich bei den Untersuchungen
Hinweise, welche Gehirnregionen im Verlauf des Gangzyklus aktiv sind.
„Unsere Ergebnisse und unser Forschungsprojekt tragen dazu bei, in
Zukunft die neuropsychologische Diagnostik von Patientinnen und
Patienten mit motorischen Störungen zu verbessern“, so Professorin
Cornelia Herbert.
In einem
zweiten Schritt haben die Forschenden einen an der THU bereits für
Ganganalysen verwendeten Lernalgorithmus so trainiert, dass dieser die
neuronalen Marker im EEG erkennt und automatisch den Gangphasen
zuordnet. „In Zukunft könnten Ganganalyse-Verfahren durch maschinelle
Lernalgorithmen in der Anwendung verbessert und vollständig
automatisiert werden“, sagt Professor Michael Munz.
Aufbauend
auf den ermutigenden Ergebnissen der Pilotstudie wollen Herbert und
Munz die Gangrehabilitation und Sturzprävention verbessern – gerne in
Kooperation mit Kliniken und Medizintechnik-Anbietern der Region.
Derzeit werden die Erkenntnisse in weiteren Stichproben und mit
Teilnehmenden unterschiedlicher Altersgruppen untersucht und validiert.
Prof. Michael Munz, Professor für Softwaretechnik und Sensorik an der THU |
Prof. Cornelia Herbert leitet die Abteilung Angewandte Emotions- und
Motivationspsychologie an der Universität Ulm und hat das
Brain-Imaging-Lab aufgebaut (Foto: Eberhardt/Uni Ulm) |
Zum Brain-Imaging-Lab
Das Brain-Imaging-Lab der Universität Ulm wurde von der Leiterin der Abteilung Angewandte Emotions- und Motivationspsychologie, Professorin Cornelia Herbert, vor etwa fünf Jahren aufgebaut. Heute verfügt das Forschungslabor unter anderem über mehrere stationäre und mobile EEG-Systeme sowie über ein funktionelles Nahinfrarotgerät (FNIRS). Dazu kommen ein Laufband mit Druckmessplatte, Inertialsensoren und Auswertungssoftware sowie Peripherphysiologiesysteme. Mit dieser Ausstattung lässt sich die Gehirnaktivität von Probandinnen und Probanden in verschiedensten Situationen messen und analysieren – unter körperlicher oder psychischer Belastung, während emotionaler Kommunikation oder eben während des Gehens.
Publikation:
Herbert, C., Munz, M. (2020). Measuring Gait-Event-Related Brain Potentials (gERPs) during Instructed and Spontaneous Treadmill Walking: Technical Solutions and Automated Classification through Artificial Neural Networks. Applied Sciences, 2020, 10(16), 5405
Text/Medienkontakt: Annika Bingmann